Mythos artgerechte Pferdehaltung

Artgerechte Pferdehaltung?

Schon immer habe ich sofort hingeschaut, wenn es irgendwo einen Pferdeschweif zu sehen gab. So fielen mir Anfang des Monats auch viele Pferde auf, als ich über Land nach Mecklenburg Vorpommern fuhr. In der Reitschule Viervitz wollte ich besprechen, wie wir das nächste Retreat für Reiter gestalten.

Fährt man mit offenen Augen durchs Land kann man überall Pferde sehen

Manchmal stehen sie in großen Gruppen auf viel Weideland und man ahnt irgendwo Offenställe oder Unterstände. Wenn die Pferde viel Platz haben und sich aussuchen können, ob sie im Schutz der Bäume oder unter freiem Himmel stehen, ist man versucht, an artgerechte Pferdehaltung denken.
Ich denke aber, dass wir in unseren Breiten den Begriff artgerechte Pferdehaltung so schlecht verwenden können. Denn machen wir uns klar, dass ein Pferd in freier Wildbahn täglich ungefähr 45 Kilo Gras frisst, bekommt das Thema eine andere Dimension. Wie viel Platz braucht ein Pferd, wenn es 365 Tage im Jahr seinen Erhaltungsbedarf durch die eigene Futtersuche decken muss? Im Sommer wie im Winter? Sicherlich mehr als der in einschlägiger Literatur empfohlene 1 Hektar pro Pferd. Rund 16 Sunden ist dann ein Pferd pro Tag unterwegs, um diese Masse an Grünzeug zu finden. Diese Zahl geht sicherlich von einem ursprünglichen trockenen Gras aus. Das moderne Hochleistungsgras, was zum großen Teil auch gedüngt wird, ist für ein genügsames Robustpferd viel zu fett, um in solchen Mengen gefressen werden zu können. Auch das Heu aus der Landwirtschaft entspricht nicht dem, was dem Steppentier Pferd in seinem ursprünglichen Lebensraum zur Verfügung steht. Schon unter diesem Aspekt muss man rationieren, wenn das Energiesparmodell zu Übergewicht neigt. Sobald das Tier Leistung bringen soll, wird in der Regel weniger auf Heu und Gras, sondern auf Kraftfutter gesetzt.

Auch wenn viel Platz zur Verfügung steht, wird es spätestens am Ende der Wachstumsperiode eng mit einer ausreichenden Versorgung.

Schon in den letzten Wochen wuchs in vielen Regionen Deutschlands kaum etwas nach, weil Regen fehlte. Wie viel weniger Futter finden die Pferde, wenn sie nur tagsüber auf kleinen Paddocks oder Wiesen und nachts in der Box stehen. Hier muss der Mensch eingreifen und sowohl die Futter- als auch die Bewegungssituation regeln. Abgesehen davon, dass diese Haltungsform auch viel mit Bequemlichkeit und Bezahlbarkeit von Land zu tun hat. Anders gefragt: Wie viel Lust hat ein Pferdebesitzer, vor seinem geplanten Ritt auf einer schier unendlich weiten Wiese erstmal das Pferd zu suchen?

Bei der Fahrt durch Mecklenburg Vorpommern sah ich überall gelbe Flecken in den Feldern.
Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber im Gespräch mit der Stallbetreiberin auf Rügen erfuhr ich, dass es auch dort seit Wochen nicht geregnet hatte. Auf Rügen, was normalerweise im Frühjahr und Sommer durch die Meeresluft immer saftig grün erscheint!
Die Pferde der Reitschule Viervitz standen Anfang Juni noch nicht auf ihren riesigen Sommerweiden. Denn dort wartete noch das Gras auf seinen ersten Schnitt. Es wurde noch nicht gemäht, da das nachwachsende Gras dann mangels Regen verdörren würde. Also standen die 45 Pferde auch dort auf ihrem Winterpaddock und nur stundenweise auf der Winterwiese. So ist es schnell vorbei mit einer frei bestimmten Lebensweise, die in meinen Augen eine artgerechte Pferdehaltung charakterisiert. Ähnlich wie bei kleinen Pferdegruppen, die deutlich weniger Platz zur Verfügung haben, muss man als Mensch viel in die natürlichen Rhythmen eingreifen. Nicht nur, wenn wir unseren Sportpartner regelmäßig nutzen wollen. Er muss ja schließlich dafür trainiert werden, dass er unser Gewicht tragen kann.

So dass wir uns nicht nur auf Grund des Klimawandels von dem Bild artgerechte Pferdehaltung verabschieden sollten

Das hört sich zwar toll an, ist in meinen Augen aber absolut nicht machbar. Zwar haben es die heutigen Pferde in vielen Ecken deutlich besser als die Boxen- und Ständerpferde des letzten Jahrhunderts. Aber sie befinden sich in unserer Obhut und sind deshalb auch unseren Vorgaben und Rhythmen unterworfen. Abgesehen davon, dass das moderne Reitpferd ganz anders gezüchtet ist als ein ursprüngliches Wildpferd. Auch wenn die Grundbedürfnisse sehr ähnlich sind, müssen wir steuern, um das Reittier gesund zu erhalten. Beispielsweise wird auch bei naturnah gehaltenen Pferden wie den Dülmener Wildpferden im Mersfelder Bruch zugefüttert, wenn das Gras wetter- oder platzbedingt nicht reicht. Nur so können sie überleben. Dort werden einmal im Jahr vor allem die Junghengste aussortiert, weil sich ansonsten der Bestand für die zur Verfügung stehende Fläche zu stark vermehren würde. Selbst in den unendlichen Weiten Amerikas passiert dasselbe beim alljährlichen Mustang Makeover. Das Überleben vieler Wildpferde ist durch Überpopulation, anhaltende Dürreperioden und Wassermangel bedroht.

Der Reitsport und auch die Bedürfnisse von Reitern verändern sich.

Ich finde es gut, dass sich auch das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Pferden weiter entwickelt. Aber lassen wir die Kirche im Dorf: unser Zusammenleben mit Pferden ist immer von uns Menschen geprägt und kann bestenfalls so naturnah wie möglich gestaltet werden.
Im Sinne unseres Lauftiers Pferd wäre es nicht nur gut, wenn sie ausreichend Platz zur Verfügung haben, sondern auch wenn sie täglich bewegt werden. Wie gesagt: 16 Stunden am Tag bummelt ein Wildpferd durch die Gegend, um Futter zu suchen.
Ob wir das schaffen? Aber mit diesem Wissen über „artgerechte Pferdehaltung“ im Hinterkopf und können wir die Lebensbedingungen unseres Lauftiers Pferd dahingehend gut beeinflussen.

Sonnige Grüße aus Brandenburg,

Corinna von Reitclever

PS: Mehr Informationen über die Bedürfnisse von Pferden uns wie man sie gesund erhält, bekommst Du im nächsten Kurs Pferdeführerschein Umgang, der im September wieder bei mir auf dem Hof stattfindet.

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