Letzte Woche war ich ein paar Tage an der Ostsee. Der Aufenthalt hat mich zu der Frage bewogen: „Wie übergriffig darf man sein?“ Auch wenn die Fragestellung Unruhe vermuten lässt, war es wunderschön. Die Temperaturen erlaubten sogar einen Badetag, allerdings war die Ostsee echt frisch.
Da wir in Begleitung einer Hundebesitzerin waren, sind wir viel gelaufen und waren an einem Hundestrand. Sehr interessant, was man dort alles sieht. Auch ist die Parallele zu Pferdebesitzern kaum zu übersehen: große Hunde, kleine Hunde und mehr oder weniger gut erzogene Hunde. Viele die tobten, mit anderen spielten und auch auf einen Zuruf sofort wieder zu Frauchen oder Herrchen zurückkamen. Kleine Kläffer, die alles und jeden anbellten, große Bullige an der Leine mit einem deutlichen Stresslevel und andere, die augenscheinlich deshalb an der Leine waren, weil die Kommunikation zwischen Mensch und Tier suboptimal ist. Gechillte Besitzer mit entspannten Hunden, Gestresste mit unausgeglichenen Hunden und auch welche, die entweder bewusst über Manches hinweg sahen oder ignorant waren.
Ich fand es interessant, was ich beobachten konnte
Aber auch nur am Rande, da ich im Entspannungsmodus unterwegs war. Sehr aufschlussreich finde ich, dass man augenscheinlich nur das wahrnimmt, was man selbst gerade als Thema hat. Wenn sich zwei Frauen immer lauter werdend unterhalten, weil der eine Hund frei herumläuft und an dem angeleinten Hund der Anderen schnuppert und sich das Frauchen des angeleinten Hundes darüber beschwert, dass der frei laufende Hund genau das tut. Wenn das Fazit einer solchen Begegnung dann heißt: „So viele unentspannte Hundebesitzer hier“ muss ich doch ein bisschen lachen. Ich bin mir sicher, wenn die Situation anders herum gewesen wäre, wäre die Besitzerin des unerlaubt schnuppernden Hundes laut und ärgerlich geworden. Denn sie beobachtet nahezu alles, was sich im Umfeld ihres Hundes abspielt und bewertet es aus ihrer eigenen Perspektive.
Ich denke, das ist normal und man kann so ein Verhalten auch bei Reitern sehen
Wenn ich beispielsweise selber gerade Probleme mit der Losgelassenheit habe oder auf Grund eines zurück liegenden Ereignisses eventuell Angst habe, frei zu galoppieren, bin ich verspannt. Dann werde ich jeden anpampen, der mit seinem Pferd zu dicht an mir vorbei reitet. Gerade dann, wenn das Pferd des Anderen das Tempo frei wählen darf und sein Reiter es dabei gewähren lässt. Ob er das bewusst tut oder sein Können für eine Tempokontrolle eventuell nicht ausrechend ist, ist dabei mitentscheidend. Jedenfalls finden Hundebesitzer andere Hunde in so einer Situation zu wenig erzogen, hysterisch oder zickig. Andere sind zu stark beeinflusst oder auch gebrochen. Mir ist bewusst, dass all das möglich sein kann und man das mit einer langen Hundeerfahrung auch sehen kann. Ich sehe in kurzen Sequenzen auch relativ viel, auch oder gerade wenn ich das Pferd – Reiterpaar nicht gut kenne.
Aber aus dem eigenen Pro-Hund Denken heraus entgegenkommende Passanten anzusprechen, dass ihr Hund zu dicht an der Straßenkante läuft, empfinde ich als übergriffig. Auch wenn ein Paar gerade im Biergarten ankommt und ihm entgegengebracht wird, dass ihr Hund dringend Wasser braucht.
Wie übergriffig darf man sein, wenn man das Gefühl hat, das ein Tier in Gefahr ist?
Sei es, dass es Wasser braucht oder möglicherweise von einem Auto erfasst wird? Wie stark darf ich mich einmischen, wenn ich als zufälliger Beobachter eine Situation anders einschätze als der Tierbesitzer?
Diese Frage ist auch für mich als Reitlehrerin spannend. Wenn ich für Unterricht gebucht werde, erwartet man von mir, dass ich alles, was mir auffällt, beurteilen und kommentieren soll. Das tue ich meist auch. Aber oft ist Fingerspitzengefühl gefragt: im ersten Kontakt gleich auf die ungünstige Pferd- Reiterproportionen oder den Fütterungszustand des Schätzchens hinzuweisen, kann nach hinten losgehen. Meist geht das gut, wenn man sich ein bisschen besser kennen gelernt hat.
Wenn allerdings mehrere Reiter in der Bahn sind und eins unkontrolliert los bockt, ist es dann meine Pflicht loszubrüllen und den fremden Reitern Anweisungen zu geben? Auch, wenn ich nur als Beobachter am Rande stehe? Wenn ich bei Spaziergängen sehe, dass Tiere schlecht behandelt werden oder auch kein Wasser oder Futter haben, mische ich mich ein? Suche ich erst das Gespräch mir dem Halter, benachrichtige ich das Veterinäramt oder bringe ich einfach Futter vorbei? Wie übergriffig darf man sein, wenn es um das Tierwohl geht? Anders gefragt wie lautstark muss ich sein, wenn es um die Durchsetzung meiner eigenen Ansicht geht?
Für mich eine schwierige Frage. Wie hältst Du das?
Sonnige Grüße,
Corinna von Reitclever
Guten Tag,
ich finde es überhaupt nicht grenzüberschreitend, wenn ich sehe, dass es einem Hund massiv schlecht geht, dem Besitzer einen „Hinweis“ darauf zu geben. Das ist für mich gelebter Tierschutz. Und wie immer kommt es auf das WIE an. Hier gibt es mehrere Möglichkeiten und der Kreativität im Positiven sind keine Grenzen gesetzt! „Wenn ich das Verhalten eines Individum ändern möchte, muss ich mein Verhalten ändern…“ Das habe ich von einer anerkannten Tiertrainerin verinnerlicht.
Wenn einem Tier Wasser fehlt ist für mich eine Grenze überschritten! Ebenfalls auch, wenn ich angeleint mit meiner alten Hündin in der Öffentlichkeit unterwegs bin und ein anderer Hund in ihre alten Knochen rennt! Die lockere Leine ist für mich im übrigen eine Art „Nabelschnur“, die wir zur positiven Verständigung und Leitung durch die Umwelt als Sicherheit verwenden, da ihr Gehör nun langsam nachlässt und sie auch für sich anstrengende Situationen nicht mehr frühzeitig als diese erkennen kann. Die generelle Bewertung, dass die Leine an einem Hund eine suboptimale Kommunikation signalisiert, empfinde ich in meinem Fall mehr als nur unfähr und in anderen Fällen sehr vorwegnehmend verurteilt!
Mische ich mich ein oder nicht…entscheidend ist doch die individuelle Situation, welche von vielen Dingen beeinflusst wird. Meine Erfahrung ist, dass Menschen schon sehr häufig ein Gespür dafür haben, dass etwas gerade nicht so richtig läuft und am ehesten wird zum Nachdenken angeregt, wenn „Führung“ oder besser das Leben mit einem Hund positiv vorgelebt werden kann.
Viele freundliche Grüße von Daniela mit Laila
Liebe Daniela,
Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort.
Sie scheinen zu den Menschen zu gehören, die Tiere und das Verhältnis zu ihrem Besitzer gut einschätzen können. Da fällt es Ihnen bestimmt auch leicht, einzuschätzen, ab wann man in welchem Ton einschreitet. Gerade den Ansatz mit dem eigenen Verhalten wirken zu wollen, gefällt mir sehr.
Freundliche Grüße zurück,
Corinna von Reitclever
Hallo Corinna, danke für deine Gedanken und ich denke dass es eine generelle Antwort nicht gibt und Daniela recht hat mit dem guten Beispiel, wenn es möglich ist. Zum Beispiel könnte man fragen, ob man dem durstigen Hund Wasser geben darf. Ohne weiteren Kommentar. Manchmal muss man auch deutlich werden, aber es hilft selten auf längere Sicht, weil Menschen, die ihre Tiere nicht wertschätzen, normalerweise sich selbst auch nicht mögen und nicht über ihren Tellerrand rausgucken können: wie du sagst, sie sehen nur sich selbst.
Also: schwierig, aber im Zweifelsfall lieber ubergriffig werden. Ignorieren bringt ja auch nichts.